Jugendliche arbeiten am Wandel

Täglich höhere Preise und eine sinkende Beschäftigungsrate führen dazu, dass Familien zum Teil ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken können. «Es ist wirklich schwierig, mit den Preisen zu überleben, die wir haben», sagt Ivona Erdeljac Senkas, Programmdirektorin bei Amica Educa in Tuzla. Auch das Bildungssystem stellt die Jugendlichen vor Probleme, weil es sie nur ungenügend auf das Berufsleben vorbereitet. Weder das auf dem Arbeitsmarkt relevante Wissen und Können noch Alltags- und Lebenskompetenzen werden ihnen vermittelt. Der Arbeitsmarkt ist so ausgetrocknet, dass sie kaum Perspektiven auf wirtschaftliche und Unabhängigkeit haben.
Es sei inzwischen normal geworden, dass die Jugendlichen sich überlegten auszuwandern, sagt Ivona Erdeljac Senkas, es hänge nur von den Chancen ab. Keine einfache Situation, wie die junge Pädagogin und Psychologin Ajla Jahić, Teilnehmerin und Freiwillige im Projekt «Promjena – Veränderung» erklärt: «Es macht mir Angst, dass viele erfolgreiche junge Menschen ihren Platz nicht in ihrem Land finden. Und wer doch einen Platz und eine Arbeit findet, erlebt grossen Druck der Gesellschaft und des Systems, auf den niemand von uns vorbereitet ist.»
Schwierige Beziehung zwischen den Generationen
Nicht nur die sozio-ökonomische Situation belastet die Jungen. Ein weiteres Problem, das sich zuspitzt, ist geschlechtsspezifische Gewalt und Feminizide. Allein im letzten Jahr wurden in Bosnien-Herzegowina zwölf Frauen zum Teil brutal umgebracht. Das hat die Gesellschaft aufgewühlt. Die Behörden weigern sich jedoch, Feminizid als separaten Straftatbestand ins Gesetz zu schreiben und strenger zu ahnden. Die Zivilgesellschaft organisierte grosse Strassenproteste, an denen eine strengere Bestrafung der Täter sowie eine spezifische Ausbildung des Personals gefordert wurden, das Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt bearbeitet.

Auch die Beziehungen zu den Eltern und ihrer Generation sind oft schwierig. «Die Folgen des Krieges, die posttraumatischen Belastungen der Erwachsenen und die transgenerationelle Übertragung auf die Jungen sind immer noch präsent», sagt Ajla Jahić. Ivona Erdeljac Senkas erläutert: «Die Eltern sehen nicht, wie schwierig es ist, in diesem Land aufzuwachsen. Sie vergleichen die Situation mit ihrer eigenen Kindheit. Aber sie hatten mehr Möglichkeiten, es gab eine gewisse Sicherheit und Stabilität. Es wurde nicht über den Krieg gesprochen, es gab keine Traumata, keine PTBS (post-traumatische Belastungsstörung), weniger Armut und Korruption rundherum. Heute sind dies normale Themen. Wenn junge Menschen über Probleme zu sprechen versuchen, sehen die Eltern dies als Widerstand gegen die Autorität oder als übliche jugendliche Rebellion. Junge Menschen fühlen sich nicht verstanden und gehört.»
Die Eltern ihrerseits kämpfen täglich um ihre Autonomie und mit psychischen Problemen. Es fehlt ihnen an Energie, Zeit, Geld, sich adäquat um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kümmern. Gleichzeitig tendiert die Gesellschaft dazu, die Jugend als passiv und lethargisch zu betrachten. Erwachsene zögern, junge Leute teilhaben und mitentscheiden zu lassen.
Das Projekt «Promjena – Veränderung» setzt hier an. «Die jungen Leute sind sehr interessiert, sie wollen dabei sein und an etwas teilhaben, das sie notwendig finden und das positive gesellschaftliche Veränderungen initiieren kann.» Ivona Erdeljac Senkas war positiv überrascht. Letztes Jahr erhielt sie 80 Anmeldungen, deutlich mehr als im Workshop-Raum Platz finden. Über die Jugendlichen, an die sich das Projekt richtet, spricht sie begeistert: «Sie sind sehr motiviert, denken kritisch und sind aufgeschlossen. Sie lassen sich nicht so sehr von Gesellschaft und Tradition beeinflussen. Deshalb sind sie gute Akteur*innen des Wandels.»

Psychische Gesundheit im Fokus
Doch haben viele junge Leute psychische Probleme, die sie entweder verstecken oder, wenn sie darüber sprechen, deswegen stigmatisiert werden. «Die Situation ist wirklich alarmierend», sagt Ivona Erdeljac Senkas. «Und es gibt kaum Unterstützungsangebote für Betroffene.» Im Projekt besuchen die Jugendlichen Workshops zu psychischer Gesundheit, zur Verbesserung der Lebenskompetenzen, zur gewaltfreien Kommunikation, aber auch zu Geschlechtergleichstellung und zu Gewalt in Paarbeziehungen. Die Jugendlichen nehmen die Workshops als Ort des Vertrauens und als sicheren Raum wahr, in dem sie offen reden können, aber auch unterstützt werden. Für diejenigen, die dies benötigen, wird auch individuelle Beratung angeboten. All dies stärkt die jungen Menschen in ihrem Selbstbewusstsein und darin, Herausforderungen zu bewältigen und ihr Leben und die Gesellschaft positiv zu verändern.
Die Jugendlichen schätzen das Vertrauen und das Gemeinschaftsgefühl, aber auch das gemeinsame Lernen. Fast alle fühlen sich persönlich besser, sie haben weniger Stress- und Angstsymptome, weniger Panikattacken und haben den Eindruck, ihre Beziehungen haben sich verbessert. Ajla Jahić ergänzt: «Zusätzlich zum theoretischen Wissen habe ich gelernt, mich selbst zu reflektieren, Schwierigkeiten zu erkennen und darauf zu reagieren.» Dies möchte sie anderen jungen Menschen weitergeben. Für dieses Peer-Counselling, das Beraten von Gleichaltrigen, werden die Jugendlichen im Projekt ausgebildet.
Demnächst steht ein Training in politischer Bildung auf dem Programm. «Ich möchte, dass sie lernen, wie man auf Stadtebene gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen kann, fokussiert auf die Bedürfnisse junger Menschen und ihre psychische Gesundheit.» erklärt Ivona Erdeljac Senkas. Sie werden gemeinsam Initiativen formulieren, Lösungen vorschlagen, Unterschriften für diese Anträge sammeln und sie an die Stadtverwaltung schicken. So lernen die Jugendlichen Schritt für Schritt, wie sie Veränderungen anstossen und hoffentlich erfolgreich bewirken können.
Zudem lernen sie, wie erfolgreiche Advocacy- und Medienarbeit geht. Sie organisieren Sensibilisierungs-Aktionen für Geschlechtergleichstellung und psychische Gesundheit auf öffentlichen Plätzen der Stadt. Durch gewaltfreie Kommunikation im Austausch mit der Öffentlichkeit und Andersgesinnten tragen die jungen Menschen zum offenen Dialog und zur Friedensbildung bei. Sie werden zu sozialen Akteur*innen, die sich in ihren Gemeinden für die Interessen der Jugend starkmachen und dieser so Perspektiven schaffen.
Erfahre mehr über unsere Arbeit
Frieda engagiert sich in Bosnien-Herzegowina gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen für die Unterstützung von Gewaltbetroffenen, die Bewältigung von (Kriegs-)Traumata sowie für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Teilhabe von Frauen und jungen Menschen.
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