Reform des Familienrechts in Marokko

Wie tausende junger Frauen in Marokko hatte die 25-jährige Studentin Sabah Idrissi ( Name geändert ) eine Liebesbeziehung. Als sie schwanger wurde, änderte sich ihr Leben abrupt. Erst wollte ihr Partner sie heiraten, um das «Problem zu lösen», aber seine Familie lehnte Sabah Idrissi kategorisch ab. In der Folge leugnete er jede Beziehung zum Kind und behauptete, er sei nicht der Vater. Sabah Idrissi konnte ihrer eigenen Familie und ihrem Umfeld nichts erzählen. Sie hätten ihre Schwangerschaft nie akzeptiert, weil sie nicht verheiratet ist. So wurde sie Mutter ohne familiäre Unterstützung, ohne finanzielle Ressourcen. Ihr Sohn kam im Frauenhaus der Frieda-Partnerorganisation INSAF zur Welt, unterstützt vom Team und den anderen Bewohnerinnen.
50ʼ000 Kinder werden in Marokko jedes Jahr ausserhalb einer Ehe geboren, obwohl einvernehmlicher Sex von unverheirateten Erwachsenen strafrechtlich kriminalisiert ist. Die unverheirateten Mütter und ihre Kinder werden zudem gesellschaftlich marginalisiert, wie auch rechtlich diskriminiert. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatten auch in der Schweiz unverheiratete Mütter und ihre Kinder mit Stigmatisierung und Diskriminierung zu kämpfen. In Marokko haben die Frauen keinen Zivilstand als Mütter und damit kein Recht auf Unterstützung und Alimente. Sie leben daher meist sehr prekär. Die meisten Väter dieser Kinder anerkennen ihre Vaterschaft nicht und übernehmen weder finanzielle noch anderweitige Verantwortung für ihre Kinder.

Allianz für die Rechte von nichtverheirateten Müttern
Die Frieda-Partnerorganisationen INSAF und 100 %Mamans unterstützen und begleiten täglich unverheiratete Mütter. Seit Jahrzehnten setzen sie sich für rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen ein, die zwar in der Verfassung steht, aber nicht in allen Gesetzen. Zurzeit warten sie gespannt, wie weit die neue Reform des Familienrechts gehen wird, die der König dem Parlament vorschlagen wird.
«Für die jetzige Reform sind wir gut vorbereitet, besser als 2004. Und die Fortschritte in Marokko wirken zu unseren Gunsten: Das Land bewegt sich, die Gesellschaft wandelt sich. Der Begriff der Familie hat sich in der Realität verändert, aber nicht in den Gesetzen. Daher gibt es einen Anpassungsdruck auf Ebene der gesellschaftlichen Normen, aber auch durch die Ratifizierung internationaler Abkommen,» schildert Fatima-zohra Achtibat, Advocacy-Verantwortliche bei 100 %Mamans, die Ausgangslage.
100 % Mamans, INSAF und die frühere Frieda-Partnerorganisation Solidarité
Féminine haben 2023 die «Allianz für die Rechte unverheirateter Mütter und ihrer Kinder in Marokko» gegründet, die erste Koalition der unverheirateten Mütter des Landes. Inzwischen sind weitere Organisationen beigetreten, so dass die Allianz nationale Bedeutung erreicht. Diese kämpft für die Rechte unverheirateter Mütter und ihrer Kinder im Kontext der Moudawana-Reform.
Die Allianz fordert an erster Stelle einen regulären Zivilstand von alleinstehenden Müttern und damit einen diskriminierungsfreien Zugang zu Dokumenten, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfe. Ihre Kinder sollen die gleichen Rechte haben wie Kinder von verheirateten Eltern. Ein-Eltern-Familien sollen anerkannt und verheirateten Eltern gleichgestellt werden. Zudem soll Abtreiben legal möglich sein und DNA-Tests für den Nachweis der Vaterschaft gratis und zugänglich. Der biologische Vater soll auch in den Papieren des Kindes eingetragen werden und Verantwortung für sein Kind übernehmen. Solche Forderungen werden von der Mehrheit der Bevölkerung jedoch nicht mitgetragen. Deshalb richten sich viele Sensibilisierungsaktivitäten unserer Partnerorganisationen an die Bevölkerung: Podcasts und Videos auf Social Media, ein Radiosender, Medien-Beiträge sowie Referate und Voten in Debatten und Veranstaltungen. Sie haben sogar ein Virtual-Reality-Erlebnis entwickelt, das einen die Erfahrungen von nichtverheirateten Müttern hautnah miterleben lässt.
Die unverheirateten Mütter sind oft so stark beeinflusst von den geschlechtsspezifischen Normen und traditionellen Werten, dass sie sich ihrer eigenen Rechte oft nicht bewusst sind. «Wir erinnern sie dann daran, dass zu den Menschenrechten auch Gleichberechtigung gehört. Und wir ermutigen sie, ihre Rechte einzufordern und sagen ihnen, dass sie den gleichen Respekt und die gleichen Chancen verdienen wie alle anderen auch, unabhängig von ihrem Familienstand oder Geschlecht», erklärt Latifa Ouazahrou, Programmverantwortliche bei INSAF. Sie haben mit ihrem Engagement eine grosse gesellschaftliche Dynamik angestossen: «In den letzten Jahren spüren wir, dass wir näher bei den Leuten sind. Indem wir uns in die Diskussionen einbringen, können wir einen Unterschied machen. Unsere Meinung und unsere Sichtweise werden gehört, und die Leute sehen, dass wir da sind,» meint Fatima-zohra Achtibat.

Starker Gegenwind
In der Debatte komme es ihr jedoch vor, beschreibt Latifa Ouazahrou, als gäbe es zwei Marokkos: Ein «schnelles» Marokko, das vorwärtsdrängt und vollständige Gleichstellung im Familienrecht will, geprägt von der Dynamik der feministischen Bewegungen. Und ein «langsames», konservatives Marokko, das eine Moudawana mit mehr Rechten für Frauen bremst.
Konservative Kreise warnen, eine Gleichstellung von Männern und Frauen würde zu religiösen, gesellschaftlichen und kulturellen Störungen führen. Sie sehen sich als Wächter eines Kulturerbes, das nicht angerührt werden solle. Deswegen denken einige, dass Veränderungen wie die Gleichstellung ihnen Religion, Kultur und ihre marokkanische Identität nähme.
In der Debatte um die Reform der Moudawana spielt der religiöse Aspekt eine wichtige Rolle, ist Dounia Benslimane, Lokalkoordinatorin von Frieda, überzeugt und erläutert: «Auch Leute, welche die Reform grundsätzlich befürworten, wollen gewisse Dinge wie ungleiche Rollen und Rechte von Mann und Frau nicht ändern, weil dies für sie religiöse Fakten sind.»
Die Verantwortlichen unserer Partnerorganisationen sind wenig optimistisch, dass die neue Moudawana ihre Forderungen erfüllen und fortschrittlich sein wird. Aber sie haben schon jetzt viel erreicht, wie Dounia Benslimane betont: «Wenn Organisationen wie 100 %Mamans und INSAF öffentlich über die Rechte von unverheirateten Müttern reden, wenn ihre Projekt-Teilnehmerinnen so viel Selbstbewusstsein entwickeln können, dass sie sich auf Social Media äussern und sagen: «Wir sind hier, wir haben Kinder, wir sind Marokkanerinnen und wir
haben Rechte.» Dann ist das ein grosser Schritt nach vorne.» Auch wenn die Regierung ihre Forderungen nicht oder unzureichend in die Moudawana schreiben sollte, werden sie dranbleiben, wie sie im Gespräch betonen. Wie schon bei der letzten und der vorletzten Reform. Denn sie sehen, dass sich Marokko und seine Gesellschaft bewegen. Diese Veränderungen wollen sie mitgestalten.
Erfahre mehr über unsere Arbeit
Frieda unterstützt in Marokko gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder. Ausserdem setzt Frieda sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter und den verbesserten Zugang von Frauen und Jugendlichen zum Arbeitsmarkt ein.
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