Für meine Scheidung musste ich meine Kinder verlassen
«Am Tag meiner Geburt wurde mein Vater, ein Kriegsfotograf, verletzt. Er war seitdem gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Meine Mutter machte mich für dieses Unglück verantwortlich. Sie nannte mich den Fluch der Familie», erzählt Samira Awad. Die Mutter übte regelmässig verbale, psychische und körperliche Gewalt an ihrer Tochter aus. Schläge, Bisse, Verbrennungen, Schnitte waren an der Tagesordnung. Die Tochter durfte nicht am Familientisch essen, sondern musste zum Essen allein ins Nebenzimmer. Um den Grausamkeiten zu entgehen, lief sie schon als Achtjährige oft tagelang weg – schläft auf der Strasse und sogar auf Friedhöfen.
Flucht ohne Zuflucht
Mit 17 Jahren flüchtet Samira Awad erneut vor ihrer Mutter auf die Strasse. Sie lernt einen Taxifahrer kennen, der ihr anbietet, in seinem Auto zu übernachten. Der Mann bedrängt und nötigt sie sexuell. Als die Mutter erfährt, dass ihre Tochter mit dem Fahrer gesehen wurde, zeigt sie diesen bei der Polizei an. Doch statt ihr zu helfen und den Mann festzunehmen, wird Samira Awad – um «ihre Ehre und die der Familie zu retten» – noch auf dem Polizeiposten gezwungen, ihren Peiniger zu heiraten. «Während die Ehre meiner Familie gerettet schien, war unsere erzwungene Heirat in den Augen der Familie meines Mannes eine Schande. Darum wurden wir im Untergeschoss des Familienhauses untergebracht – ohne fliessendes Wasser und Strom. Mich behandelten sie wie eine Aussätzige. Und auch für meinen Mann war ich immer nur eine «Sache», die er benutzen konnte. Von Beginn an beutete er mich sexuell aus.»
Samira Awad bringt sechs Kinder zur Welt. Ihr alkohol- und medikamentensüchtiger Mann vernachlässigt die Familie, gibt das verdiente Geld für seine Vergnügungen und andere Frauen aus. Lange Jahre erduldet Samira Awad mangels Alternativen und ihren Kindern zuliebe die Situation. Als ihr Mann eine zweite Frau heiratet, ringt sie sich durch und verlangt die Scheidung. «Obwohl mein Mann als Fahrer Geld verdiente, gab er davon nichts der Familie. Die Kinder und ich mussten von Almosen, Essensgutscheinen und Zuschüssen der Sozialhilfe leben. Warum sollte ich noch bei ihm bleiben?» Doch ihr Mann lehnt die Scheidung ab. Und das Recht ist leider auf seiner Seite: ohne seine Zustimmung keine Scheidung.
Ein unfassbares Dilemma
Die Jahre vergehen. Weil die Ehe mit seiner zweiten Frau auch nach drei Jahren kinderlos bleibt, will er als «Beweis für seine Männlichkeit» ein weiteres Kind mit Samira Awad zeugen. Sie lehnt entschieden ab: «Ich hatte schon sechs Kinder und alles, was ich wollte, war die Scheidung – auch ohne seine Zustimmung.» Samira beschliesst weiterzukämpfen. Denn das Familiengesetz im Gazastreifen sieht ein Schlupfloch vor: Wenn die Frau beweisen kann, dass ihr Mann sie vernachlässigt, ist eine Scheidung auch ohne dessen Zustimmung möglich. «Dies hiess, dass ich beweisen musste, dass mein Ehemann ein ganzes Jahr lang keinen Kontakt zu mir hatte und mich auch finanziell nicht unterstützte. Mir blieb nur eines: Das Familienhaus zu verlassen und meine Kinder bei ihm zurückzulassen. Es war die schwerste Entscheidung in meinem Leben...»
Schon nach kurzer Zeit erreicht sie ein Hilferuf ihrer beiden ältesten Töchter, 20 und 18 Jahre alt. In der Abwesenheit der Mutter hat der Vater die Töchter sexuell belästigt. Die Mädchen melden den Vorfall in ihrer Schule und reichen eine Anklage ein. Der Vater wird festgenommen. Für Samira Awad steht fest: Sie muss zur Familie zurückkehren und ihre Töchter schützen. Auch wenn dadurch ihre Scheidung in weite Ferne rückt. Gemeinsam mit ihren Töchtern sucht sie bei staatlichen Stellen Hilfe: Vergeblich – man glaubt ihnen nicht, weist sie weg und ruft die Familie ihres Mannes an. Einer seiner Brüder holt die Töchter ab, zuhause misshandelt sie brutal. Er will erzwingen, dass seine Nichten die Anklage gegen ihren Vater zurückziehen, um die «Familienehre» zu retten.
Endlich in guten Händen
Die beiden jungen Frauen müssen bei den Verwandten ihres Vaters leben. Gleichzeitig verweigert der im Gefängnis sitzende Vater seinen beiden ältesten Töchter den Wunsch, zu heiraten und damit der Familie zu entkommen. Der Fall landet schliesslich vor einem Familienrichter. Dieser rät Samira Awad, sich an Zaynab El Ghounaimi, die Direktorin der Frieda-Partnerorganisation CWLRCP, zu wenden. «Es war während des ersten Pandemie-Lockdowns und ich war sehr mutlos. Würde man mich und meine Töchter wieder einfach wegschicken und hintergehen? Doch Zaynab El Ghounaimi gab uns einen Platz im Frauenhaus Hayat. Zum ersten Mal hörte uns jemand richtig zu – und glaubte uns.» Sie und ihre Töchter werden psychosozial begleitet. Samira Awad kann zum ersten Mal im Leben allmählich Vertrauen fassen. Die Sozialarbeiterinnen des Projekts Hemaia – Schutz gleisen mithilfe einer bekannten Anwältin den Fall juristisch auf. Die Anwältin besucht den Ehemann und Vater mehrfach im Gefängnis, verhandelt mit ihm und erreicht schon nach wenigen Monaten mit Wissen, Verhandlungsgeschick und Zielstrebigkeit das scheinbar Unmögliche: Er willigt in die Scheidung ein und ein Familienrichter verpflichtet den Mann zur «Scheidung in Abwesenheit». Samira Awad wird nach 10 Jahren endlich geschieden. «Es war ein langer Weg. Jetzt fühle ich mich befreit, viel stärker und zuversichtlicher.»
Ein wichtiger Schritt ist erreicht. Als geschiedene Frau verliert sie jedoch das Sorgerecht für ihre Kinder. Dieses wird an einen zuverlässigen Bruder ihres Ex-Mannes übertragen. Er willigt in die Hochzeiten der ältesten Töchter ein. Die Sozialarbeiterinnen des Projekts Hemaia – Schutz überprüfen, ob die zukünftigen Ehemänner vertrauenswürdig sind. Auch die jüngeren Kinder werden regelmässig von einer Sozialarbeiterin besucht. Samira Awad lebt heute in einer kleinen Wohnung, die ein Schwiegersohn für sie gemietet hat. «Ich kann zwar nicht mit meinen Kindern zusammenleben, aber wir dürfen uns regelmässig sehen. Alles, was ich möchte, ist dass sie ein glückliches, selbstbestimmtes Leben führen. Und ich selbst möchte eine Ausbildung machen und eigenes Geld verdienen. Nie wieder möchte ich von jemandem abhängig sein!»
*Name zum Schutz der Betroffenen geändert
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