Feministisches Engagement und transnationale feministische Solidarität in Kriegszeiten (Teil 1)

Leid, Zerstörung, Repression und Verluste prägten das letzte Jahr in Israel und Palästina. Die militärische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung hat ungleiche gesellschaftliche Machtverhältnisse verstärkt und das System patriarchaler Dominanz vertieft.
Wie hat sich feministische Arbeit unter diesen Bedingungen verändert? Ist feministische Arbeit nach über einem Jahr Krieg überhaupt noch möglich? Und was könnten feministische und friedenspolitische Bewegungen in der Schweiz tun, um sie zu unterstützen? Diese Fragen haben wir unseren Partnerorganisationen in Israel und dem besetzten palästinensischen Gebiet letzten Herbst gestellt. Die Expertinnen von drei Partnerorganisationen haben uns ihre Einschätzungen und Erfahrungen zu diesen dringenden Fragen mitgeteilt. Diese sind in den folgenden zwei Berichten zusammengefasst.
Zwischen Durchhalten und Erstarken:
Stimmen aus Israel und dem besetzten palästinensischen Gebiet
Wie ist feministische Arbeit nach über einem Jahr des Krieges überhaupt noch möglich? Was hat sich verändert und mit welchen Herausforderungen sehen sich die befragten Frieda-Partnerorganisationen konfrontiert?
Frauenrechtsarbeit im Gazastreifen: Geschlechtsspezifische humanitäre Unterstützung für Familien
Von den über 48'500 Todesopfern (Stand März 2025) im Gazastreifen sind 70 % Frauen und Kinder.(1) Die Altersgruppe mit den meisten verifizierten Todesopfern sind Kinder im Alter von fünf bis neun Jahren laut der stellvertretenden UN-Generalsekretärin für Menschenrechte Ilze Brands Kehris. Die immense Zerstörung im Gazastreifen aufgrund der Bombardierungen und der anhaltenden Kämpfe beeinträchtigen alle Lebensbereiche der Überlebenden massiv. Diese militärische Gewalt, die gemäss Amnesty International rechtlich einen Völkermord(2) darstellt, wirkt sich auch geschlechtsspezifisch aus. So sind zum Beispiel schwangere Frauen einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt: Es gibt Berichte über Kaiserschnitte ohne Anästhesie, Fehlgeburten in noch nie dagewesener Häufigkeit. Es fehlt an Personal, Spitälern, Medikamenten und Hygieneartikeln fehlt. Schon nur der Weg in die noch verbleibenden betriebsfähigen Gesundheitseinrichtungen ist hochriskant. Das schränkt den Zugang zu Vorsorge- und Gesundheitseinrichtungen stark ein, Die anhaltende Kriegsgewalt gefährdet damit die reproduktive und sexuelle Gesundheit insbesondere von Frauen.
Zusätzlich zu ihrer gewohnten, alltäglichen Sorgearbeit, sehen sich die Frauen zunehmend in der Verantwortung, alle Grundbedürfnisse ihrer Familien zu sichern – vor allem dann, wenn männliche Familienmitglieder getötet wurden. Zu den grössten Herausforderungen gehört der Lebensmittel- und Wassermangel. Vor allem bei Kindern führt dieser zu Mangelernährung und Hungertod. Die meisten Familien leben auf engstem Raum in notdürftigen Zelten. Sichere Unterkünfte gibt es praktisch nicht. Der Gas- und Brennstoffmangel zwingt Frauen dazu, über offenem Feuer zu kochen. Der dabei entstehende Rauch stellt ein gravierendes Gesundheitsrisiko dar. Die psychische Belastung der Kinder und der Zusammenbruch des Bildungssystems sind weitere Auswirkungen des Krieges, die hauptsächlich die Frauen auffangen und tragen.
Die Frieda-Partnerorganisation ist entsprechend mit dem täglichen Überleben beschäftigt: einerseits mit dem Wiederaufbau ihrer eigenen Organisation, als auch mit der direkten Nothilfe und psychosozialen Unterstützung von Familien. Die Frauen, die im Zentrum Unterstützung suchen, betonten, dass es langfristige Dienstleistungen braucht – etwa finanzielle Hilfe zur Deckung der dringendsten Grundbedürfnisse, Lebensmittelpakete, medizinische Unterstützung, Arbeitsmöglichkeiten und kontinuierliche psychologische sowie rechtliche Unterstützung. Inmitten des Krieges und der ständigen Bedrohung, antwortet das Zentrum auf diese Bedürfnisse und unterstützt Frauen und ihre Familien bei ihren unmittelbaren Herausforderungen. Eines der aktuellen Hauptziele ist es, Frauen und Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt psychologisch und rechtlich zu unterstützen. Zudem bietet das Zentrum Bargeldhilfe für Familien, Nothilfepakete mit Esswaren, Hygieneprodukte, Kleider und Decken sowie spezifische psychosoziale und rechtliche Begleitung für besonders gefährdete Frauen und Kindern an.
Geschlechtergerechtigkeit und Widerstand gegen die Besatzungspolitik im Westjordanland: Von Basisaktivismus zur nationalen Interessenvertretung
Im Schatten des Krieges im Gazastreifen nimmt auch im von Israel völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland die Gewalt massiv zu. Die dortigen Frieda-Partner*innen betonen, dass der palästinensische Feminismus historisch eng mit dem Kampf gegen die Besatzung verbunden ist: Frauenrechte sind oft mit Befreiung und Widerstand verknüpft. Entsprechend berichtet eine der Frieda-Partnerorganisationen, dass ihr feministisches Engagement im Zuge des anhaltenden Krieges zugenommen hat. Trotz der vielen Schwierigkeiten sind feministische Bewegungen gemäss ihrer Einschätzung sehr aktiv geworden, um auf die verschiedenen Kämpfe der palästinensischen Frauen zu reagieren. Sie antworten auf die steigende Nachfrage nach psychologischer Beratung, Traumabehandlung und Grundversorgung und stellen sicher, dass die Unterstützung geschlechtsspezifischen Aspekten Rechnung trägt. Angesichts der steigenden Herausforderungen sind sie zudem selbstbewusster geworden in ihren Bemühungen, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Auf nationaler Ebene haben palästinensische Frauenrechtsorganisationen eine grössere Rolle bei der Erstellung von Berichten für internationale Gremien wie die UN-Organisationen und humanitäre Organisationen (Human Rights Council, Commission on the Status of Women usw.) übernommen, um das Leid der palästinensischen Frauen sichtbar zu machen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Gleichzeitig stellt eine Frieda-Partnerorganisation eine Erosion des Vertrauens in internationale Menschenrechtsmechanismen fest. Viele palästinensische Frauen sind enttäuscht von internationalen Menschenrechtsorganisationen. Zwar wurde die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in zahlreichen Erklärungen verurteilt, im UN-Sicherheitsrat legten jedoch die Vereinigten Staaten ihr Veto gegen eine Reihe von Waffenstillstandsresolutionen ein und ignorierten Verurteilungen von UN-Organisationen. Dies hat viele feministische Aktivistinnen in ihrer Entschlossenheit bestärkt, ihre eigenen, lokalen Unterstützungsnetzwerke zu stärken und sich selbst für sinnvolle Veränderungen innerhalb ihrer Gemeinschaften einzusetzen. So haben Frauen laut der Frieda-Partnerorganisation im Westjordanland inmitten des Konflikts eine bemerkenswerte Widerstandskraft gegenüber gewalttätigen Siedler*innen-Angriffen bewiesen. Trotz der Risiken kämpfen die Frauen beharrlich für den Zugang zu ihren landwirtschaftlichen Flächen und deren Schutz, indem sie ihr Recht auf Lebensunterhalt und ihr kulturelles Erbe geltend machen. Die Entschlossenheit der Frauen, ihre Landrechte zu verteidigen, unterstreicht die entscheidende Rolle, die sie für den Schutz ihrer Gemeinschaften und bei der Bewahrung ihrer Lebensweise spielen. Das feministische Engagement im besetzten palästinensischen Gebiet hat sich somit weiterentwickelt und umfasst nun ein breiteres Spektrum an Aufgaben, die von Aktivismus an der Basis bis hin zur nationalen Interessenvertretung reichen.
Palästinensischer Feminismus in Israel: Im Schatten der politischen und im Zentrum der persönlichen Gewalt
Auch in Haifa, Israel, ist die Situation schwierig. Mitarbeitende der Frieda-Partnerorganisation Kayan sind nach über einem Jahr Krieg psychisch erschöpft. Es ist entsetzlich für sie, mitansehen zu müssen, welche Auswirkungen die Gewalt in Israel, den Nachbarländern und im besetzten palästinensischen Gebiet, insbesondere im Gazastreifen auf die Menschen hat. Die Ohnmacht, nichts dagegen tun zu können, ist kaum auszuhalten. Hinzu kommt der psychische Druck der ständigen Bedrohung und des täglichen Raketenbeschusses. Dies zwingt alle, in der Nähe von Schutzräumen zu bleiben und von zu Hause aus zu arbeiten. Deshalb können sie sich gegenseitig als Team weniger gut unterstützen. Der Aufwand für unbezahlte Care-Arbeit, wie etwa die Pflege von Angehörigen, Haushaltsführung und Kinderbetreuung, hat für Frauen stark zugenommen – selbst in Familien, in denen beide Ehepartner*innen diese Aufgaben mittragen. Gleichzeitig betont Kayan, dass es gerade in der aktuellen Gewalteskalation entscheidend sei, dass Frauen ihre Stimme erheben und sich gegen Ungerechtigkeit wehren. Auch für Kayan ist das Engagement für Geschlechtergerechtigkeit eng mit einem menschenrechtsbasierten Widerstand gegen die israelische Besatzungspolitik und gegen den Krieg verknüpft.
Kayan berichtet, dass die Projektteilnehmerinnen, die zur systematisch diskriminierten palästinensischen Gemeinschaft in Israel(3) gehören, unter Trauer, psychischem Stress und Angst um ihre Kinder und Familien leiden. Hinzu kommt die Angst vor dem Verlust ihres Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, da die freie Meinungsäusserung stark eingeschränkt wird. So kann momentan bereits das Befürworten eines Waffenstillstandes oder das Betrauern eines im Gazastreifen verstorbenen Familienmitglieds zu einer Entlassung oder sogar einer Verhaftung durch die israelischen Behörden führen. Kayan beobachtet daher in ihrem Umfeld einen Rückgang des öffentlichen Engagements in den sozialen Medien. Vielen Frauen trauen sich nicht einmal mehr, einen Facebook-Beitrag zu «liken». Aufgrund der Raketenangriffe im Norden Israels nehmen Frauen viel weniger an öffentlichen Aktivitäten teil. Das Interesse an Online-Aktivitäten innerhalb geschlossener Gruppen, in denen arbeitsrechtliche Informationen und persönliche Schutzmassnahmen geteilt werden, hat daher stark zugenommen. Zusätzlich weitet Kayan die juristische Arbeit aus, zum Beispiel auf die rechtliche Vertretung von Arbeitnehmer*innen, denen missbräuchlich gekündigt wurde.
Kayan hat zudem festgestellt, dass Projekt-Aktivitäten zu Themen, die den Frauen vor dem Krieg wichtig waren, weniger nachgefragt werden. Dazu gehört die Sensibilisierung für eine aktive politische Beteiligung, häusliche Gewalt und Geschlechterdiskriminierung. Im Gegenzug ist das Interesse an direkter Unterstützung gestiegen. Solche Prioritätenverschiebungen kennen die Mitarbeitenden bereits von früheren landesweiten Krisen. Angesichts des nationalen Notstandes zögern viele Frauen, sich auf ihr persönliches Wohlergehen zu konzentrieren, und haben Hemmungen, über ihre Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu sprechen. Dies führt dazu, dass der eigene Schutz vernachlässigt und öffentliche Angelegenheiten sowie das Wohlergehen der Familie und Kinder in den Vordergrund gestellt werden. In Anbetracht der massiven Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt gegenüber Palästinenser*innen in Israel – die Täter*innen kommen aus der eigenen Gemeinschaft wie auch aus israelischen Behörden – ist dies verheerend. Die israelische Polizei zeigt sich zudem immer nachlässiger, Gewalttaten gegen Palästinenser*innen überhaupt zu verfolgen.
Um besser auf diese neue Problematik eingehen zu können, zielen die Projektaktivitäten aktuell darauf ab, Geschlechterfragen und sexualisierte Gewalt noch stärker in den Vordergrund der humanitären und politischen Bemühungen zu rücken. So wurden unter anderem Online-Treffen mit lokalen Frauen- und Jugendgruppen organisiert, um zu diskutieren, wie wichtig es ist, Frauenfragen und feministische Anliegen nicht zugunsten breiterer öffentlicher Anliegen zu vernachlässigen – ohne die Bedeutung dieser breiteren Themen zu schmälern. Zusätzlich erhalten Projektteilnehmerinnen an Online-Sitzungen emotionale Unterstützung und tauschen Erfahrungen aus.
Die drei Stimmen zeigen, dass sich die Art und Weise, wie sich Frauen engagieren sowohl im Gazastreifen und im Westjordanland aber auch in Israel im aktuellen Umfeld von Angst und Unsicherheit verändert hat. So unterschiedlich die Herausforderungen für Friedas Partnerorganisationen sind, so klar sind ihre Visionen für einen gemeinsamen Kampf.
Lesen Sie hier Teil 2 dieses Texts.
(1) ZDF heute, Gaza-Krieg. UN: Vor allem Frauen und Kinder unter den Toten, URL: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/israel-nahost-gazastreifen-un-tote-kinder-frauen-100.html, abgerufen 13. November 2024.
(2) Amnesty International, You feel like you are subhuman. Israel's Genocide against Palestinians in Gaza, abgerufen 5. Dezember 2024.
(3) Angehörige der palästinensischen Gemeinschaft in Israel werden auch «arabische Israelis» genannt. Es sind Menschen arabisch-palästinensischer Herkunft, welche die israelische Staatsangehörigkeit besitzen. Viele von ihnen gehören zu Generationen von Palästinenser*innen, die bereits vor der Staatsgründung Israels in diesen Teilen des Landes lebten.