Offener Brief an den Bundesrat zum Krieg in Israel/Palästina
Wir, die 18 mitunterzeichnenden Organisationen dieses offenen Briefs richten uns an Sie gestützt auf die Grundsätze der Menschlichkeit und Würde, die jedem Menschen weltweit zugestanden und gewährleistet werden müssen, basierend auf den fundamentalen Grundrechten aller Menschen, den Prinzipien des Völkerrechts sowie der Perspektive eines gerechten und dauerhaften Friedens im Nahen Osten.
Am 7. Oktober 2023 wurden wir alle mit den schrecklichen und nicht zu rechtfertigenden Terrorakten konfrontiert, die von der Hamas und ihren Sympathisanten mit einer extremen Brutalität auf Zivilist:innen wie auch auf Soldat:innen und Sicherheitspersonal in Israel verübt wurden. Wir haben diese Anwendung von Gewalt verurteilt, und werden uns immer gegen sie im Nahen Osten wie auch anderswo einsetzen. Gewaltakte ziehen stets weitere Gewalt nach sich. Diese sind nicht zu rechtfertigen und stellen schon gar keine Lösung dar, wenn es um die Beilegung eines Konflikts geht. Der massive militärische Vergeltungsschlag Israels auf den Gazastreifen ist daher auch nicht gerechtfertigt. Das Recht eines Landes, sich zu verteidigen, ist eine Sache. Ein Recht, Tausende unbewaffneter und unschuldiger Zivilisten außerhalb seiner Grenzen zu töten, gibt es nicht.
Sehr geehrte Damen und Herren, Sie alle haben ohne zu zögern die Morde und abscheulichen Verbrechen verurteilt, die die Hamas in Israel begangen hat, und Sie hatten Recht damit. Leider haben aber nur sehr wenige von Ihnen denselben Mut gezeigt, um die Bombardierungen von Gaza zu verurteilen, die Tausende von zivilen Opfern fordern. Insbesondere hat der Bundesrat ein irritierendes Schweigen zur israelischen Regierung als Hauptverantwortliche für die vielen Toten in der palästinensischen Zivilbevölkerung an den Tag gelegt. Wir können uns nicht erklären, warum bis heute keine Ihrer Instanzen öffentlich zu einem sofortigen und unbegrenzten Waffenstillstand aufgerufen hat, obwohl der UNO-Generalsekretär, alle UNO-Organisationen und Hunderte von nationalen und internationalen NGOs dies gefordert haben, indem sie die humanitäre Katastrophe, die sich vor unseren Augen abspielt, deutlich beschreiben.
Die Schweiz hat einzig am 27. Oktober 2023 ihr Stimmrecht in der UNO-Generalversammlung genutzt, um eine nicht bindende Resolution für eine «humanitäre Waffenruhe» zu unterstützen, aber im Sicherheitsrat, wo unser Land einen entscheidenden Einfluss haben könnte, hat sie nichts unternommen, um den Ruf nach einem zeitlich unbegrenzten Waffenstillstand zu unterstützen und zu verteidigen. Viele unserer Partner:innen in Israel, Palästina und der ganzen Welt fragen sich, warum die «humanitäre Schweiz» nicht versucht hat, Frieden und ein Ende der Gewalt aktiv zu fordern. Das Ansehen unserer Diplomatie der guten Dienste im Hinblick auf den Frieden und die Konfliktlösung ist dadurch beträchtlich beschädigt worden.
Es muss klar sein: So wie die Morde und andere Gewalttaten der Hamas, ganz zu schweigen von den Geiselnahmen, barbarische Akte waren, sind die militärischen Vergeltungsschläge Israels eine inakzeptable Kollektivstrafe für die Bevölkerung des Gazastreifens. Geiselnahmen sowie wahllose und unverhältnismässige Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt werden und lebenswichtige Infrastrukturen zerstört wird, sind Kriegsverbrechen, möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit, oder sogar Verbrechen, die einen Völkermord darstellen. Sie sind in jedem Fall zu verurteilen und zu stoppen. Ihre Verantwortlichen müssen vor Gericht gestellt werden, und dafür muss der Internationale Strafgerichtshof (ICC) politische und finanzielle Unterstützung erhalten, die zur Erfüllung seiner Aufgabe notwendig ist.
Ende November konnten wir eine relative Entspannung im Krieg zwischen der Hamas und Israel beobachten, als tröpfchenweise Geiseln und politische Gefangene freigelassen wurden. Wir begrüssten dies. Das ist aber nicht genug: alle Anstrengungen müssen unternommen werden, um einen von allen Seiten respektierten und zeitlich unbegrenzten Waffenstillstand zu erreichen. Angesichts Ihrer politischen Verantwortung fordern wir Sie auf, in diesem Sinne zu handeln, um alle Menschenleben zu schützen: In Israel, im Gazastreifen und auch im Westjordanland, da die israelischen Kriegsschläge und die Rhetorik noch mehr als sonst Übergriffe von Soldaten und Siedlern gegen die palästinensische Bevölkerung im gesamten besetzten Gebiet legitimieren.
Alle Konfliktparteien müssen die Gewalt unverzüglich beenden und den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts Folge leisten. Die Schweiz soll sich nachdrücklich gegenüber den Konfliktparteien in diesem Sinne einsetzen. Angesichts der sich verschärfenden humanitären Katastrophe im Gazastreifen sollten die Zahlungen der humanitäre Hilfe erhöht und lokale Menschenrechtsorganisationen und humanitäre Organisationen gestärkt, statt kriminalisiert, werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, in einem zweiten Schritt oder sogar parallel dazu, bitten wir Sie, sich aktiv für eine Lösung des Konflikts einzusetzen, gemeinsam mit den Israelis, den Palästinenser:innen und allen Ländern, die sich aktiv für eine Befriedung einsetzen. Der Weg zu Frieden, Gerechtigkeit, ja sogar zu Vergebung und Versöhnung wird sehr lang sein. Aber jeder Schritt, der getan wird, wird sich lohnen. Insbesondere die Beendigung der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Anerkennung der Existenz eines palästinensischen Staates in den Grenzen von vor 1967 wären wichtige Meilensteine, für die sich die Schweiz unverzüglich und notfalls unilateral einsetzen sollte, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Viele namhafte Expert:innen, Aktivist:innen auf beiden Seiten und Diplomat:innen haben es immer wieder gesagt: Wenn Palästinenser:innen einer Vision in Richtung Souveränität und Selbstbestimmung beraubt werden, droht die ideologische Basis der Hamas auch ohne ihre Organisation weiter zu bestehen. Mit anderen Worten: Mehr als jede Strategie der Aufrüstung, Kontrolle und Unterdrückung würde nur echte Freiheit für das palästinensische Volk, verbunden mit der Anerkennung seiner Grundrechte, die Sicherheit der israelischen Bevölkerung und damit des Staates Israel gewährleisten. Der jüngste Höhepunkt tragischer und unmenschlicher Gewalt ruft heute dazu auf, alle Initiativen zu erwägen und aktiv zu unterstützen, die sich auf das Prinzip der Gewaltfreiheit berufen, anstatt bewaffnete Operationen, die eine sicherheitspolitische Allmacht beanspruchen.
Abschliessend möchten wir Sie daran erinnern, dass wir, die mitunterzeichnenden Organisationen, über grosse Fachkenntnisse, Erfahrungen und Kontakte im Zusammenhang mit der Region Israel/Palästina verfügen, die wir als Ressourcen ansehen und die es zu nutzen gilt. Wir werden uns jederzeit gerne mit Ihnen treffen, um Ihre Fragen zu hören und gegebenenfalls zu erläutern. Zögern Sie nicht, uns einzeln oder gemeinsam (z. B. für Seminare oder Podiumsdiskussionen) zu kontaktieren. Die tragischen Entwicklungen der Lage im Nahen Osten machen es erforderlich, dass wir gemeinsam daran arbeiten, die Schlüssel zu einem Konflikt zu verstehen, der schon zu lange andauert. In diesem Zusammenhang möchten wir unsere Besorgnis über eine Tendenz zum Ausdruck bringen, die darin besteht, jede Kontextualisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus, der durchaus seine Berechtigung hat, zu verurteilen und zu verbieten. Als Politiker:innen haben Sie die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in unserem Land ein demokratischer Raum erhalten bleibt, der die Meinungsfreiheit fördert, da sie die Grundlage für das Zuhören und den Dialog bildet.